ND vom 5.8.05Nicht alle wollen nach Europa Linke in der Türkei uneins über einen möglichen EU-Beitritt Von Peter Nowak Die mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei sorgt für große Auseinandersetzungen vor allem in den EU-Mitgliedstaaten. Doch seltener wird gefragt, wie eigentlich in der Türkei die mögliche EU-Mitgliedschaft diskutiert wird. Die meisten Medien hier zu Lande vermitteln den Eindruck, dass am Bosporus bis auf einige unverbesserliche Nationalisten alle möglichst schnell in die EU wollen. Nur wenige Türkeikenner weisen daraufhin, dass da ein sehr einseitiges Bild vermittelt wird. Die meisten Korrespondenten großer Zeitungen leben in Istanbul. Gerade in den Intellektuellenkreisen dieser türkischen Metropole sind auch die meisten Befürworter einer schnellen EU-Mitgliedschaft zu Hause. Bei ihnen schwingt vor allem die Hoffnung mit, dass nur auf diesem Weg mehr Demokratie garantiert werden kann. Das ist mit Abstrichen auch die Position vieler gemäßigt linker Organisationen wie der mit den Grünen vergleichbaren Partei ÖDP oder von Menschenrechtsorganisationen wie dem IHD. Der steht dem EU-Beitritt der Türkei zwar kritisch gegenüber, stellt sich aber nicht grundsätzlich gegen den Beitrittsprozess, weil darin eine Chance für einen demokratischen Wandel gesehen wird. Eine ähnliche Position vertreten auch die meisten kurdischen Organisationen in der Türkei. So begrüßte der kurdische Bürgermeister von Diyarbakir, Osman Baydemir, den EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei dessen Besuch im September 2004 mit den Worten: »Lieber Herr Verheugen, willkommen im größeren Europa.« Ganz anders ist die Position bei den verschiedenen kommunistischen Gruppen und Parteien der Türkei. Sie lehnen den Beitritt zur EU, die sie als imperialistisches Bündnis bezeichnen, geschlossen ab und organisieren Proteste dagegen. Auch die Menschenrechtsorganisation HÖC und die »Föderation für Grundrechte und Freiheiten« lehnen eine EU-Mitgliedschaft ab. Zwar würde die blutige Folter vielleicht etwas zurückgedrängt, aber es entstünden neue Formen der Unterdrückung, meinte eine Vertreterin der HÖC gegenüber ND. Dabei verwies sie auf ein aktuelles Beispiel: »Im Jahre 2000 wurden in der Türkei Isolationsgefängnisse mit dem Argument eingeführt, man müsse sich auch beim Haftsystem an den EU-Standards orientieren. Dagegen sind viele der politischen Gefangenen in einen Hungerstreik getreten, der 120 Menschen das Leben kostete. Auch das am 1. Juni 2005 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz wird mit dem EU-Standard begründet. Doch es verschärft die Haftbedingungen.« Neben den Fragen der Menschenrechte veranlassen auch wirtschaftliche Gründe linke Gruppen zu einer Ablehnung der EU. Vor allem kleine Landwirte und Gewerbetreibende könnten zu den Verlierern eines Beitritts gehören, befürchten sie. Auch der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Becker sieht in diesen Gruppen die Verlierer. Der an der Wirtschaftsuniversität Wien lehrende Ökonom weist auf Gefahren für die innenpolitische Entwicklung der Türkei hin. »Diese Gruppen sind in der Frage des EU-Beitritts bisher kaum zu Wort gekommen. Die EU-skeptischen Positionen könnten von nationalistischen Parteien aufgegriffen und instrumentalisiert werden.« |