ND vom 11.10.05 Keine City of God Zwei Filmemacherinnen dokumentieren die Polizeigewalt in den brasilianischen Favelas Von Peter Nowak Eine neue Dokumentation der Filmemacherinnen Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein vom Filmkollektiv AK Kraak widmet sich der Polizeigewalt in den Elendsvierteln Brasiliens. Seit der preisgekrönte Film »City of God« in den Kinos lief, glauben viele, das wahre Leben in den brasilianischen Favelas - den Elendsvierteln rund um die großen Städte - zu kennen. Die Mischung aus südamerikanischer Exotik, Tanz und Musik ist sicher ein Teil des Lebens der Menschen und kommt auch in kurzen Sequenzen im aktuellen Film von Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein vor. Doch der Großteil der beeindruckenden Dokumentation ist der alltäglichen Polizeigewalt in den Favelas gewidmet. Unter dem Deckmantel der Drogenmafia-Bekämpfung sind vor allem junge Männer Freiwild für die Uniformierten. »Lasst mich leben« Allein in und um Rio de Janeiro kamen zwischen 2001 und 2003 fast 1200 Menschen ums Leben. Vor der Kamera wagen viele Angehörige erstmals frei zu sprechen. »Hier war alles voll Blut«, erzählt eine ältere Frau und zeigt auf die Mauer, an der wenige Wochen zuvor drei junge Männer erschossen worden waren. Eine Mutter berichtet, wie ihr Sohn am Morgen auf dem Weg zur Arbeit in die Fänge der Polizei geriet. »Lasst mich leben, ich bin nur ein Arbeiter«, rief er noch, bevor ihn ein Uniformierter mit einem Kopfschuss tötete. Alle Gesprächspartner bestätigen, dass es die Armen sind, die leiden und sterben. Der Drogenhandel diene nur als Vorwand. »Mein Sohn musste sterben, weil er kein Drogenhändler war«, meint Marcia Oliveira Jacinto. Ihr 16-jähriger Sohn war erschossen aufgefunden worden. Drogenhändler hatten ihr später berichtet, dass die Polizei von ihnen ein Lösegeld für seine Freilassung gefordert hatte. Weil er nicht in den Drogenhandel involviert war, konnte kein Geld bezahlt werden. Das war sein Todesurteil. Viele Menschen beklagen, dass es der Polizei nicht um die Bekämpfung, sondern um die Kontrolle des Drogenhandels gehe. Nachbarn wurden bedroht Die Filmemacherinnen zeigen auch, wie sich die Favela-Bewohner angesichts der eskalierenden Polizeigewalt zu organisieren beginnen. Sie gehen auf die Straße, demonstrieren und fordern Rechenschaft von den Politikern. Von der Regierung Lula sind sie enttäuscht. »Die lassen sich in den Favelas nicht sehen«, schimpfen sie. Der neu eingesetzte Menschenrechtsbeauftragte der Polizei versucht den wütenden Bewohnern klar zu machen, dass er im Polizeiapparat mit seinem Einsatz für die Einhaltung von Menschenrechtsstandards selbst zur Unperson wurde und sogar unter Personenschutz gestellt werden musste. Noch mehr Gefahr aber droht Favela-Bewohnern, die eine Untersuchung der Todesfälle fordern. So berichtet eine Mutter, dass sie ihre Anzeige gegen die Polizisten, die ihren Sohn erschossen hatten, zurückzog, nachdem sie Favela-Bewohner inständig darum gebeten hatten. Die Mutter fürchtete keine Konsequenzen, doch sie gab auf, weil Ihre Nachbarn bedroht worden waren. Dem Film ist eine große Verbreitung zu wünschen. Schließlich ist das Interesse hier zu Lande an Leben und Kultur Brasiliens groß. Doch meist erschöpft es sich im Genuss von südamerikanischen Klängen und exotischen Tänzen. Die Dokumentation zeigt die andere Seite Brasiliens, und die ist für die Mehrheit der Bevölkerung dort Realität. |