ND vom 10.6.05»Die Ablehnung öffnet Spielräume« Ulrich Brand über die Kampagne der sozialen Bewegungen gegen die EU-Verfassung Ulrich Brand, Jahrgang 1967, studierte Politikwissenschaft in Frankfurt (Main), Berlin und Buenos Aires. Derzeit arbeitet er im Fachgebiet »Globalisierung und Politik« der Universität Kassel, ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac sowie der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO). Mit ihm sprach für ND Peter Nowak. ND: Bei den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden haben die Bürger gegen die EU-Verfassung gestimmt. Sie gehörten zu den Unterzeichnern des Appells »Solidarität mit dem linken Nein in Frankreich«. Was war Hintergrund dieser Initiative? Brand: In Deutschland waren der Bundestags- und der Bundesratsbeschluss zur Ratifizierung der EU-Verfassung bewusst nah an den Termin des französischen Referendums gelegt worden. Das war eine eindeutige Unterstützung der Verfassungsbefürworter und der französischen Regierung. Wir wollten mit unserem Aufruf, der nicht zuletzt auf eine Anregung aus Frankreich zu Stande gekommen ist, unsere Gegenposition auf europäischer Ebene deutlich machen. Zudem wollten wir die Strategie von Bundesregierung und Parteien durchkreuzen, die den Eindruck erwecken wollte, als gebe es in Deutschland keine Kritik am EU-Verfassungsvertrag. Das ist uns eindrucksvoll gelungen. Lässt sich ein linkes Nein von einer nationalistischen Europa-Ablehnung überhaupt eindeutig trennen, wenn doch am Ende alle Stimmen zusammengezählt werden? Das ist für das Abstimmungsprozedere sicherlich zutreffend. Doch die Kampagne der Linken hat sich nicht auf eine Ablehnung der EU-Verfassung beschränkt, sondern Fragen der sozialen Gerechtigkeit und demokratischer Politik aufgeworfen. Insofern hat sie sich eindeutig von den Rechten abgegrenzt. Beobachter gehen davon aus, dass rund 80 Prozent der französischen Nein-Stimmen von links gekommen sind. Damit gehen die sozialen Bewegungen in Frankreich gestärkt aus dem Referendum hervor. Ist das französische Nein auch über Frankreich hinaus ein Erfolg für die sozialen Bewegungen? Ja, denn bei einer wichtigen Frage haben die sozialen Bewegungen Europas ihre Handlungsfähigkeit bewiesen. Allerdings wäre es falsch, nach der Ablehnung in Euphorie zu verfallen. Wir sind jetzt keinesfalls in der Offensive. Es handelt sich hier vielmehr um einen defensiven Erfolg. Die EU-Politiker basteln schon an Fristverlängerungen für die Ratifizierung der Verfassung. Droht trotz Ablehnung ein »Weiter so«? Dass die EU-Politiker mit den entstandenen Problemen auf technokratische Weise umgehen, war zu erwarten. Auch die politische Klasse in Deutschland steht weiterhin hinter der Verfassung. Entscheidend wird jetzt für die sozialen Bewegungen sein, die Initiative nicht den Herrschenden zu überlassen, und in nächster Zeit einen alternativen Vorschlag in die öffentliche Debatte zu bringen. Das Nein öffnet Spielräume. Wie die gefüllt werden, wird sich zeigen. Gibt es in den linken sozialen Bewegungen überhaupt Einigkeit über eine sozialere, antimilitaristische Verfassung? Da bedarf es in der nächsten Zeit noch intensiver Diskussionen. Die sollten sich allerdings nicht in erster Linie auf die Ausgestaltung einer Verfassung konzentrieren. Es sollte vielmehr um die Perspektive weltweiter Gerechtigkeit gehen. Wie ist das zu verstehen? Es darf beispielsweise nicht nur in den Blick genommen werden, wie der Wohlstand verteilt, sondern auch wie er geschaffen wird. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage, welches Europa wir wollen. Soll es ein Europa sein, das wie bisher seine Wettbewerbsfähigkeit am kapitalistischen Weltmarkt unter Beweis stellt, was auch viele linke Kräfte stützen. Oder soll es ein friedliches, antimilitaristisches Europa sein, das Fragen weltweiter Gerechtigkeit angeht. In diese Debatte müssen wir auch die Europakonzeption mancher Verfassungsgegner kritisch hinterfragen. Da gibt es häufig einen unkritisch-positiven Bezug auf Europa als wirtschaftlichen und unter Umständen auch militärischen Gegenpol zu den USA. Könnte eine Debatte dieser Fragen nicht die Chance der sozialen Bewegungen verstellen, durch das Aufgreifen EU-kritischer Stimmungen in der Bevölkerung endlich wieder ein breit diskutiertes Thema zu besetzen? Es ist sicherlich wichtig, die Unzufriedenheit über Europa politisch aufzugreifen und sie mit emanzipativen Orientierungen zu füllen. Doch das kann nicht von oben laufen, sondern ist ein Prozess, in dem in der Öffentlichkeit die neoliberalen »Selbstverständlichkeiten« in Frage gestellt werden müssen. Der Technokratismus der Herrschenden und ihrer dumpfen Intellektuellen müssen kritisiert und Alternativen aufgezeigt werden. Doch die EU-Verfassung wird auch in Zukunft nicht im Focus der entscheidenden, sozialen Auseinandersetzungen in Europa stehen. Auch hier werden vielfältige innergesellschaftliche Kämpfe um soziale Gerechtigkeit den Mittelpunkt bilden. Dass aktuell die europäischen Dimensionen in den sozialen Bewegungen an Bedeutung gewinnen, ist sicherlich ein Erfolg der jüngsten Mobilisierung. |