Telepolis vom 31.8.03Fit für die EU?
Peter Nowak Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind Menschenrechtsverletzungen wie Folter und staatliche Morde in der Türkei gegenüber dem Vorjahreszeitraum deutlich angestiegen "Militär in der Türkei entmachtet", solche und ähnliche Schlagzeilen waren in den letzten Wochen häufiger in den Medien zu lesen [1]. Tatsächlich wurden mit dem sogenannten "Siebenten Reformpaket", dass nach der Unterzeichnung durch den türkischen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer [2] in Kraft treten kann, innenpolitische Weichenstellungen getroffen, die das Land am Bosporus fit für die EU machen sollen. Die Reform [3] schränkt die Machtbefugnisse des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) erheblich ein, über den sich die Militärs bisher das letzte Wort bei allen wichtigen politischen Entscheidungen vorbehalten haben. Er soll auf ein zweimonatlich tagendes Beratungsgremium reduziert werden, in dem künftig nicht mehr die Generäle, sondern die Zivilisten die Tagesordnung bestimmen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat der MGK praktisch die Richtlinien der türkischen Politik bestimmt, die von den Politikern nur abgenickt werden durften. Zeigten sie sich widerspenstig, wurde sie kurzer Hand aus dem Amt gedrängt, wie 1997 der islamistische Ministerpräsident Necmettin Erbakan [4]. Nun hat der gemäßigte Islamist Recep Tayip Erdogan [5] mit der Verabschiedung des Reformpakets einen wichtigen Etappensieg gegenüber den Militärs errungen. Anders als Erbakan hat sein eloquenterer Nachfolger auf provokative Gesten und Töne verzichtet. So hat er es geschafft, seine mit absoluter Mehrheit regierende AKP als konservative Partei mit islamischen Grundwerten zu verkaufen. Viele Beobachter staunten, dass die Umstrukturierungen relativ reibungslos über die Bühne gehen. Die türkischen Militärs verzichteten auf Machtdemonstration gegen ihren Machtverlust. Generalstabschef Hilmi Özkök hat sich sogar ausdrücklich hinter die Reformen gestellt und damit der Regierung den Rücken freigehalten. Der Hauptgrund ist der Wunsch nach Aufnahme in die EU, der nicht nur von großen Teilen der Bevölkerung, sondern auch den Wirtschaftskreisen des Landes vehement gefordert wurde. Die Militärs konnten kein eigenes Politikkonzept entgegen setzten. Ihre Planspiele von einer von der EU unabhängigen Türkei mit Exklusivbeziehungen zu den USA haben sich nach dem Irakkrieg als unrealistisch erwiesen. Nachdem das türkische Parlament den Truppen- und Waffentransport über die Türkei abgelehnt hatte (vgl. Ein kurzes Ja für die Stationierung der US-Truppen in der Türkei [6] ), verschlechterten sich die Beziehungen sogar rapide. Türkische Menschenrechtler begrüßen den Machtverlust der Militärs, warnen aber vor voreiligen Illusionen in eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft. Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit geht die politische Verfolgung von Oppositionellen nämlich weiter. So sind nach einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD [7] im ersten Halbjahr dieses Jahres Menschenrechtsverletzungen wie Folter und staatliche Morde gegenüber dem Vorjahreszeitraum deutlich angestiegen. Angehörige der Gefangenenhilfsorganisation Tayad [8] wurden Ende Juli während eines Konvois für die Rechte der politischen Gefangenen in der Kleinstadt Afyon von einer nationalistischen Menge belagert und mit Steinen beworfen [9]. Mehrere Personen wurden teilweise schwer verletzt. Auch der Prozess gegen den bekannten deutsch-türkischen Liedermacher Ferhat Tunc [10] zeugt nicht gerade von einem Aufbruch zu mehr Demokratie. Er wird beschuldigt, bei einem vom Tourismusministerium geförderten Konzert in der Osttürkei die lange Jahre verbotene und mittlerweile aufgelöste kurdische Arbeiterpartei PKK gegrüßt zu haben, was Tunc bestreitet. Eigentlich hätte der Prozess nach der Verabschiedung der Reformgesetze gar nicht mehr stattfinden können. Denn damit wurde auch der Artikel 169, der sich gegen terroristische und separatistische Organisationen richtet, abgeschafft. Doch die Staatsanwaltschaft wusste sich zu helfen. Sie schrieb die Anklage kurzerhand um. Jetzt ist Tunc wegen "Unterstützung einer illegalen Organisation nach Paragraf 312" angeklagt.
Links
[1] http://www.taz.de/pt/2003/08/01/a0116.nf/text [2] http://www.mfa.gov.tr/turkce/gruph/hi/10.htm [3] http://www.kas.de/publikationen/2003/2298_dokument.html [4] http://www.geocities.com/Paris/5276/erbakan.htm [5] http://www.rterdogan.com [6] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/irak/14299/1.html [7] http://www.ihd.org.tr/eindex.html [8] http://www.tayad.de [9] http://www.tayad.de/2seite.htm [10] http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=2763 73& |