Telepolis vom 9.12.03Ohne Schuhe vor Gericht Peter Nowak
Seit mehr als 2 Jahren wird gegen 19 Unterstützer von politischen Gefangenen ein Prozess geführt, bei dem europäische Standards ein Fremdwort sind "Morgen werden Sie sehen, was die Türkei von den vielgerühmten europäischen Standards hält", meint Zeki Rüzgar. Der noch von einem schweren Verkehrsunfall gezeichnete Mann ist in der Türkei und Europa bekannt geworden. Im Jahr 1999 war er festgenommen und für mehr als 6 Monate inhaftiert worden. Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, dass er "terroristische Organisationen" in der Türkei protegiere. Seine Unterstützer, davon viele Anwälte aus ganz Europa, sehen Rüzgars einziges Verbrechen in der engagierten Verteidigung seiner zahlreichen Mandanten aus der türkischen Linken. Rüzgar ist vorerst wieder auf freien Fuß, darf aber die Türkei nicht verlassen, weil sein Verfahren jederzeit wieder aufgerollt werden kann. Doch darüber will der Anwalt nicht reden. Zur Zeit beschäftigt sich Rüzgar hauptsächlich mit den Armutlu-Prozess. Benannt ist er nach dem Istanbuler Armenstadtteil Armutlu am Rande von Istanbul, in dem die 19 Angeklagten lebten. Der Stadtteil ist auf keinem Stadtplan zu finden. Touristen verirren sich nicht dorthin, wo Tausende von Menschen, darunter viele Binnenflüchtlinge aus dem Osten der Türkei, in ärmlichen Verhältnissen leben. Der Stadtteil wurde in den 70er Jahren von den Bewohnern illegal errichtet. Gecekondus, über Nacht gebaut, heißen diese Stadtviertel [1]), die seit jeher zur Hochburg der türkischen Linken gehören. Die Unterstützung der politischen Gefangenen ist dort ein Selbstverständnis. Viele immer wieder von der Polizei übermalte Parolen auf den kleinen Häusern erinnern daran, dass im Jahre 2001 in Armutlu Mitglieder der Angehörigenorganisation Tayad [2] mit einen unbefristeten Hungerstreik auf die Situation der politischen Gefangenen in der Türkei aufmerksam machen wollten. Damals kamen selbst Kamerateams aus Großbritannien und Kanada nach Armutlu, um von dem Kampf zu berichten. Das war der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Ende November 2001 stürmten schwerbewaffnete Polizisten die Häuser, in denen sich die Hungerstreikenden aufhielten. Mehrere Häuser wurden zerstörten. Fünf Menschen kamen durch Polizeikugeln ums Leben. Doch gegen keinen Polizisten wurde deswegen ermittelt (s. Amnesty-Bericht [3]). Vor Gericht stehen vielmehr 19 Bewohner von Armutlu, die sich damals der Polizei in den Weg stellten. Bis auf wenige Ausnahmen sind sie über zwei Jahre inhaftiert. Ein Ende ist nicht abzusehen. Der nächste Prozesstermin ist am 25.Februar 2004 angesetzt. "Eine mehrmonatige Pause zwischen den Prozessen ist in der Türkei nicht ungewöhnlich", meint Rechtsanwalt Ahci Behic. Das ist nicht der einzige, sogar einem juristische Laien ersichtliche Widerspruch zu den vielzitierten "europäischen Standards", die die Türkei als Eintrittsbillet in die EU erfüllen soll [4]. Nur 8 von den 19 Angeklagten sind vor Gericht erschienen. Der Gesundheitszustand der übrigen war zu schlecht. In kurzen persönlichen Erklärungen beklagten drei Angeklagte die schwere, erniedrigende Arbeit und häufige Schläge im Gefängnis. Aus Protest gegen diese Haftbedingungen weigerten sich alle Angeklagten, Schuhe zu tragen und erschienen auf Strümpfen vor Gericht. Der Richter blieb unbeeindruckt. Auch als bei Prozessende drei Angeklagte von der schwerbewaffneten Polizei geschlagen und brutal aus dem Gerichtssaal gezerrt wurden, weil sie sich von ihren Freunden und Angeklagten auf den Zuschauerbänken verabschieden wollten, kam von Seiten der Justiz kein Protest. "Das Verfahren sagt mehr über die vielbeschworenen Demokratisierung in der Türkei als manche medienwirksam verkündeten Gesetzesänderungen", meint Rechtsanwalt Behic.
Links
[1] http://www.geo.uni-augsburg.de/sozgeo/gp/gp11/metropol.htm [2] http://www.tayad.de/ [3] http://web.amnesty.org/library/Index/ENGEUR440802001?open&of=ENG-TUR [4] http://www.dradio.de/aktuell/198019/ |