Telepolis vom 12.2.02Die Argentinier träumen immer noch vom wahren Peronismus
Peter Nowak Gespräch mit dem argentinischen Schriftsteller Osvaldo Bayer
Argentinien ist in den letzten Tagen wieder aus den Medien verschwunden. Doch die wirtschaftliche Krise ist weiterhin ungelöst und die Proteste großer Teile der Bevölkerung gehen weiter. Peter Nowak sprach mit dem bekannten argentinischen Schriftsteller und Publizisten [1]Osvaldo Bayer über die argentinische Tragödie. Osvaldo Bayer wurde 1927 in Santa Fé geboren und lebte zwischen 1976 und 1983 im bundesdeutschen Exil.
Argentinien ist nicht das einzige Land mit einer schweren Wirtschaftskrise. Warum reagieren gerade viele Bewohner dieses Landes mit massenhaften Protesten darauf?
Osvaldo Bayer: Um die Reaktionen der Bevölkerung zu verstehen, muss man weit in die [2]Geschichte Argentiniens zurück gehen. Das Land wollte nie zu Lateinamerika gehören. Man fühlte sich immer als Europäer und schaute mitleidig auf die armen Brüder und Schwestern der Nachbarländer herab. Die Krise hat das Land jetzt unsanft auf den Boden der Realitäten zurück gebracht. So ist für viele Bewohner die Krise eine nationale Demütigung. Sie haben eine solche Krise in ihrem Land bisher nie erlebt und es sich auch nicht vorstellen können. Zudem bedeutet die Wirtschaftskrise eine Tragödie für viele Menschen. Schließlich gibt es keinerlei staatliche Arbeitslosenunterstützung. Viele Menschen wissen nicht, wie sie überleben können.
Wer waren die Protagonisten der Straßenproteste der letzten Wochen?
Osvaldo Bayer: In Argentinien spricht man vom Bündnis zwischen Casserolleros und Piqueteros. Die Casserolleros kommen aus dem Mittelstand, der durch die Krise um ihre Ersparnisse gebracht wurde. Ihr Name kommt von den leeren Kochtöpfen, mit denen sie auf der Strasse Krach schlagen. Sie sind in erster Linie verzweifelt. Die Piqueteros sind eine Selbstorganisation der Arbeitslosen. Sie sind sehr militant und haben vor allem in der armen Bevölkerung viel Sympathie. Ihr Leitspruch lautet Arbeit und Gerechtigkeit. Sie berufen sich auf anarchistische Wurzeln, die in der Arbeiterbewegung vor dem RErsten Weltkrieg sehr stark waren. Ihre große Schwäche ist ihre mangelnde Einigkeit und fehlende landesweite Strukturen.
Welche Rolle spielen linke Parteien in den Protesten?
Osvaldo Bayer: Die linken Parteien in Argentinien wurden gleich zweimal geschlagen. Zunächst vom Peronismus und dann von der Militärdiktatur. Die Peronisten haben die Parolen der Arbeiterbewegung verbal übernommen, in der Praxis aber kapitalistische Politik gemacht. Es sollte alles anders werden, ohne etwas zu verändern. Die besondere Tragödie bestand darin, dass in den 70er Jahren eine ganze Generation von idealistischen Jugendlichen unter der Fahne des Linksperonismus kämpfte. Das waren die Monteneros. Wie sämtliche anderen linken und gewerkschaftlichen Gruppen wurden sie während der Militärherrschaft vernichtet. Nichts außer heroischen Bildern blieb von dieser enthusiastischen Generation übrig. Seitdem hat ein Großteil der argentinischen Bevölkerung regelrecht Angst vor der Linken. In der Hauptstadt Buenos Aires könnte ein Bündnis aus dem linken Flügel der Radikalen Partei und den Sozialisten nach optimistischen Schätzungen auf 10 % der Stimmen kommen. Doch in den Provinzen können die Menschen nur die Caudillos der beiden großen Parteien: der Radikalen Bürgerunion und der Peronisten.
Wird sich der gegenwärtige Präsident Duhalde behaupten können?
Osvaldo Bayer: Prognosen über die Entwicklung der argentinische Innenpolitik sind nicht möglich. Duhalde hat sich mittlerweile durch eine opportunistische Politik die Unterstützung der US-Regierung erworben. Hatte er kurz nach seinem Regierungsantritt noch erklärt, dass die Förderung der nationalen Industrie Vorrang habe und sogar eine Aussetzung der Schuldenzahlung in Erwägung gezogen, machte er kurz danach eine typisch peronistische Kehrtwende und erklärte in einem Brief an Bush seine vollständige Unterstützung der amerikanischen Politik. Diese Politik ist auch in der peronistischen Partei nicht unumstritten. So wird Duhaldes Schicksal als Regierungschef hauptsächlich davon abhängen, ob er sich im innerperonistischen Machtkampf durchsetzen kann.
Wächst in dieser Situation nicht die Gefahr eines neuen Militärputsch?
Osvaldo Bayer: Das Militär hat sich durch ihre blutige Herrschaft und der Niederlage im Malvinen-Krieg in der argentinischen Bevölkerung so diskreditiert, dass ein erneuter Putsch in Argentinien zur Zeit völlig undenkbar ist. Eine Gefahr sind allerdings pensionierte Militärs, die nach ihrem Ausscheiden rechtspopulistische Parteien gegründet haben. Auf diese Weise haben sich einige berüchtigte Menschenrechtsverletzter zu Provinzgouverneuren wählen zu lassen und setzen ihre alte Politik fort. So hat der Gouverneur der Provinz Tucaman Bettler und Straßenhändler in eine unbewohnte Gegend verfrachtet. Doch bei seinen Wählern ist er sehr populär, weil er für saubere Städte und Recht und Ordnung eintritt.
Viele Globalisierungskritiker sehen den Internationalen Währungsfond (IWF) als Hauptverantwortlichen für die Wirtschafts- und Schuldenkrisen. Welche Rolle spielt der IWF bei der momentanen Wirtschaftskrise in Argentinien?
Osvaldo Bayer: Die Wirtschaftskrise hat sowohl innere als auch äußere Ursachen. Die argentinischen Eliten machen gerne einseitig den IWF für die Krise verantwortlich. Doch das ist zu einfach. Der IWF braucht in allen Ländern Politiker, die diese Politik umsetzen. |