Frankfurter Rundschau vom 28.2.02 Unbequemes Drängen Studierende fordern Aufarbeitung der NS-Geschichte ein
Von Peter Nowak
Blind beim Blick auf die eigene Historie? Seit mehr als zehn Jahren bemüht sich eine studentische Initiative vergeblich darum, dass sich die Agrar-Fakultät der Humboldt-Universität (HU) Berlin kritisch mit einem Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte während der NS-Zeit befasst.
BERLIN. Am 28. Mai 1942 ließen die NS-Machthaber den "Generalplan Ost" veröffentlichen. Darin war ein nationalsozialistisch durchdrungenes Osteuropa skizziert - mit Zwangsumsiedlung und "Germanisierung" von Millionen Einwohnern sowie der Vernichtung der nach der NS-Ideologie rassisch unerwünschten Menschen. Historiker bewerten den "Generalplan Ost" als wissenschaftliche Vorbereitung für den planmäßigen Hungertod von 30 bis 50 Millionen Menschen in Osteuropa. Wie die Historiker Susanne Heim und Götz Aly in ihrem 1991 erschienenen Standardwerk "Die Vordenker der Vernichtung" nachwiesen, waren an der Ausarbeitung dieser Pläne verschiedene wissenschaftlichen Gremien beteiligt. Neben der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) als Hauptfinanzier des Plans ist das Institut für Ostfinanzforschung an der Jenaer Universität und das damals in Berlin-Dahlem beheimatete Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik zu nennen. Seit mehreren Jahren fordert in Berlin eine studentische Initiative die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit ein.
"Seit 1992 versuchen wir, die Verantwortlichen des Fachbereichs Agrarwissenschaft für dieses Thema zu interessieren", sagt der Sprecher der Initiative, Matthias Burchard. Damals wurden im Zuge der Neuordnung der Berliner Wissenschaftslandschaft die drei Fachbereiche Agrar- und Gartenbauwissenschaft, Veterinärmedizin und Lebensmitteltechnologie der Humboldt-Universität zugewiesen. "Angesichts der Dahlemer wissenschaftlichen Genozidplanung 1940 bis 1944 ist Vorsicht und Selbstkritik im Rahmen der Ost-West-Fusion angebracht", schrieb die Initiative in ihrer ersten Stellungnahme. In einem studentischen Antrag von 1992 mit dem Titel "Aufklärung erwünscht" wurde der Fachbereich aufgefordert, sich mit historischen Ortsbegehungen, Zeitzeugenberichten und dem Anbringen einer Gedenktafel an der Aufarbeitung der Vergangenheit zu beteiligen.
Doch was in den meisten anderen Fakultäten mittlerweile durchgesetzt wurde, stößt an der HU bislang auf taube Ohren. Daran haben auch mehr als 30 Mahnwachen, eine Reihe von Informationsblättern sowie eine Sondernummer der Studentenzeitung "Huch" nichts geändert. Zahlreiche Eingaben mit konkreten Vorschlägen blieben in den Gremien hängen. Als die studentische Initiative vor einem Jahr eine Gedenktafel für die Opfer des "Generalplan Ost" am Gebäude der Agrarfakultät anbrachte, ließ die Uni-Verwaltung die Tafel nach wenigen Tagen wieder entfernen. "Wir betreiben die Aufarbeitung unserer Geschichte auf seriöse Weise und laden alle dazu ein, die sich daran beteiligen wollen", erklärte die HU-Verwaltung. Doch Initiativen, die sich in eigener Regie an der Aufarbeitung beteiligen wollen, werden weiterhin ignoriert. zum sechzigsten Jahrestag des "Generalplan Ost" im kommenden Mai erneut die angemessene Würdigung der Opfer zu fordern.
Auch die Biografien der an der Erstellung des "Generalplan Ost" beteiligten Wissenschaftler sind noch nicht genügend erforscht. Viele von ihnen konnten Arbeit und Karriere nach 1945 fortsetzen. |