junge Welt08.09.2001Sind »Vertriebenenverbände« mehr als Folklorevereine? jW sprach mit Jörg Ostermann vom Thüringer Infoladen Sabotnik, Mitorganisator von Protesten gegen den tag der Heimat in Erfurt _________________________________________________________________
F: Am 9. September feiert der Bund der Vertriebenen in der Erfurter Thüringenhalle den »Tag der Heimat«. Mit welchem Programm?
»Tage der Heimat« finden jedes Jahr in vielen Städten der BRD statt. Die »Vertriebenen« fordern dort ein »Recht auf Heimat« und knüpfen an die revanchistischen und geschichtsfälschenden Traditionen an, z. B. an die »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«. Dort wurde bezogen auf den Faschismus formuliert, daß die »Vertriebenen« die »vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen« seien - und das im Angesicht der Millionen Jüdinnen und Juden, die in deutschen Vernichtungslagern industriell ermordet wurden! Auftreten werden in Erfurt unter anderem der Vorsitzende des Thüringer BdV, Paul Lattusek, und der Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, der auch Schirmherr der Veranstaltung ist.
F: Welche Gegenaktionen sind geplant, und wer organisiert sie?
Antifaschistische Gruppen werden mit einer Kundgebung, die auch von einzelnen Gewerkschaftern unterstützt wird, direkt vor dem Veranstaltungsort der »Vertriebenen« protestieren. Die PDS-Landtagsfraktion forderte den Ministerpräsidenten erfolglos dazu auf, von einer Rede abzusehen und die Schirmherrschaft niederzulegen.
F: Paul Latussek ist eine zentrale Figur bei den »Vertriebenen«. Welche Rolle spielt er in der Grauzone zwischen Konservativen und Faschisten?
Latussek gilt seit dem Start seiner politischen Laufbahn als rechts-konservativ. 1990 war er unter den Gründern der DSU, einem ostdeutschen Ableger der CSU. Zwischenzeitlich war er Vizevorsitzender des Bund Freier Bürger, der in Thüringen 1998 zusammen mit den Republikanern zur Landtagswahl auf einer Liste antrat. Er schrieb für Nation & Europa, die älteste neofaschistische Zeitschrift der BRD, und ein Interview mit ihm war in der DVU-Postille Deutsche Wochenzeitung zu lesen. Weiter trat er als Referent bei der Gesellschaft für freie Publizistik auf und war im letzten Jahr auch auf einem Seminar der NPD- nahen Deutschen Akademie, zusammen mit Horst Mahler, angekündigt. Das »Handbuch deutscher Rechtsextremismus« weiß daher schon 1996 zusammenzufassen: »Latussek ist Vertriebenenfunktionär mit Verbindungen ins offen rechtsextremistische und >neurechte< Lager. Als deutschtümelnder, revanchistischer Hardliner wirkt er innerhalb des BdV, um hier eine Polarisierung innerhalb der Vertriebenenverbände zu betreiben«. Eigentlich hätte Latussek am heutigen Samstag auch bei einem »Tag der Heimat« in Düren sprechen solle, wurde aber wegen seiner neofaschistischen Gesinnung ausgeladen!
F: Sind Vertriebenenverbände im Zeitalter von EU- Osterweiterung nicht nur noch bloße Trachten- und Folkloregruppen, oder haben sie für antifaschistische Politik noch Relevanz?
Alarmierend ist, daß die Forderungen der »Vertriebenen« mit der deutschen Außenpolitik zum Teil Hand in Hand gehen. Im Zuge der EU-Osterweiterung sollte der Beitritt der Tschechischen Republik an Zugeständnisse gegenüber BdV-Forderungen geknüpft werden. Die Politik des BdV, der im übrigen zwei Millionen Mitglieder hat, verläuft entlang »völkischer« Kriterien. Das deckt sich mit der aktuellen Politik in der BRD. Über das Aufspüren und die finanzielle Unterstützung »ethnischer Minderheiten« erweitert die BRD ihren wirtschaftlichen Einfluß in Osteuropa.
F: Im Protestaufruf setzen Sie sich kritisch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auseinander. Welche Rolle spielt es in der aktuellen deutschen Außenpolitik?
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hält die rot- grüne Bundesregierung genauso hoch, wie das Helmut Kohl 1990 tat. Es ist ein Mittel deutscher Außenpolitik. Beispiele dafür sind die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens im Alleingang durch die BRD oder die Finanzierung der »Vertriebenenverbände« sowie diverser »Volksgruppen«- Organisationen in Osteuropa.
Interview: Peter Nowak |