TELEPOLIS23.11.2001Interview mit einem IHD-Funktionär in Telepolis Der Krieg gegen Afghanistan droht die türkische Zivilgesellschaft zu begraben Peter Nowak
Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Istanbuler Mesnchenrechtsvereins Ercab Kanar
Der Rechtsanwalt und langjährige Vorsitzende des Istanbuler Menschenrechtsverein ( [1]IHD Ercan Kanar warnt vor den innenpolitischen Folgen, die die Beteiligung seiner Regierung am Kampf gegen den Terror hat. Seine Prognosen über eine zunehmende Repression in der Türkei hat sich in den letzten Tagen schon bestätigt. Vor wenigen Tagen ging das türkische Militär gegen Todesfastende im Istanbuler Stadtteil Armutlu vor, die auf die Situation in den türkischen Gefängnissen aufmerksam machten und tötete vier Menschen.
Die Türkei beteiligt sich an der sogenannten Anti-Terror-Koalition des Westens und schickt jetzt sogar eigene Soldaten in den Krieg gegen Afghanistan. Wie wird das in der türkischen Bevölkerung aufgenommen?
Ercan Kanar: Die große Mehrheit der Bevölkerung in der Türkei lehnt diesen Krieg ab und sieht mit großem Abscheu, dass die türkische Regierung sogar mit eigenen Soldaten in diesen Krieg eingreift. Es gibt Umfragen, welche die Anzahl der Kriegsgegner auf mehr als 85% in der türkischen Gesellschaft beziffern. Interessanterweise ist die Ablehnung des Krieges in dem kurdischen Teil genauso groß wie im Rest der Türkei.
Unter den Kriegsgegnern gibt es große Auseinandersetzungen über die Frage, wie die USA auf die Angriffe vom 11.September reagieren sollte. Wird diese Diskussion in der Türkei auch geführt?
Ercan Kanar: . Wir Menschenrechtler verurteilen den Angriff vom 11.September vorbehaltlos, so wie wir schon immer Terror abgelehnt haben. Wir sind allerdings der Meinung, dass die wahren Ursachen für die Anschläge vom 11.September in der weltweiten Ungleichheit und Ausbeutung liegen. Wir plädieren dafür, diese Ursachen des Terrors zu bekämpfen. Weitere Kriege mit noch mehr toten Zivilisten sind dabei bestimmt der falsche Weg.
Allerdings ist es in der Türkei nicht möglich, über solche Fragen öffentlich zu diskutieren. Denn trotz der großen Kriegsgegnerschaft in der Bevölkerung haben die Friedenskräfte bei uns keine Möglichkeit, sich zu artikulieren. Wir haben nicht wie in Deutschland und sogar in den USA die Möglichkeit, offen darüber zu diskutieren oder sogar gegen Krieg zu demonstrieren. Alle Manifestationen des Friedens werden von Polizei und Militär mit Gewalt verhindern.
Gab es Versuche, die Ablehnung des Krieges öffentlich zu artikulieren?
Ercan Kanar: Es gab in der letzten Zeit immer wieder Versuche, gegen den Krieg zu demonstrieren. Doch die Aktionen wurden sehr schnell und brutal von den Sicherheitskräften beendet. Viele Teilnehmer wurden festgenommen, aber überwiegend nach 2 Tagen wieder freigelassen. Allerdings haben sie jetzt mit Prozessen und hohen Strafen zu rechnen. Das streckt natürlich ab, so dass sich ein Großteil der Bevölkerung nicht an Protesten beteiligt.
.Hat die Kriegsbeteiligung der Türkei Auswirkungen auf den Demokratisierungsprozess im Land?
Ercan Kanar: Das kann man eindeutig sagen. Die Anschläge vom 11.September und die Kriegsbeteiligung dienen der Regierung als Vorwand die Menschenrechtsverletzungen im Land verschärft fortzusetzen. So wurde kürzlich der Ausnahmezustand in vier kurdischen Provinzen erneut verlängert, obwohl nach dem Waffenstillstand der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) dort keinerlei Guerillatätigkeit zu verzeichnen war. Jede Diskussion über eine Aufhebung des Ausnahmezustands ist nach dem 11.September verstummt. Auch andere staatsterroristische Praktiken finden jetzt in der Türkei wieder Anwendung. Die Folter hat zugenommen, in Kurdistan wurden Dörfer gewaltsam geräumt, Häuser wurden gestürmt und jetzt verschwinden Oppositionelle auch wieder.
In den Jahren 1994 bis 1998 gehörte das Verschwindenlassen von Regierungskritikern zum Alltag in der Türkei. Danach hat es auch durch Druck aus dem Ausland nachgelassen. Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Krieg gegen Afghanistan die bescheidenen Anfänge einer Zivilgesellschaft in der Türkei zu begraben droht. Auch die Belange der Kurden und der politischen Gefangenen, die seit mehr ein als ein Jahr im [2]Todesfasten sind, finden jetzt noch weniger Gehör.
Wie wirkt sich dieses innenpolitische Klima auf die Verfassungsänderungen aus, die eigentlich mehr Demokratie bringen sollten?
Ercan Kanar: Die Verfassungsänderungen vom September haben insgesamt nicht zu mehr Freiheit geführt, wie es nach Außen dargestellt wird. Es gibt zwar einige Regelungen, die mehr Rechtssicherheit bringen. Doch im Kern hat sich nichts geändert. So ist die Todesstrafe gerade für politische Verfahren nicht aufgehoben worden. Auch die Macht des Militärs und seines Sicherheitsapparats wurden nicht angetastet. Auch die lange erwartete Sprachreform brachte keine wirklichen Fortschritte. Die kurdische Sprache darf weiterhin nicht in den Schulen gelehrt werden.
Der Grundfehler dieser Reformen ist das völlige Fehlen einer gesellschaftlichen Debatte. Menschenrechtsgruppen hatten lange darauf gedrungen, dass die Öffentlichkeit an der Reformdiskussion beteiligt wird. Doch nach dem 11.September wurden diese Gesetze in einem Klima der Kriegshysterie ganz schnell verabschiedet. Auch hier sind also die negativen Folgen der Anschläge deutlich zu erkennen. |