junge Welt Interview15.08.2001Macht der Hungerstreik in der Türkei noch Sinn? Leyla Delgiz ist in dem kürzlich in Bielefeld gegründeten Tayad-Solidaritätskomitee aktiv. jW sprach mit ihr _________________________________________________________________
F: Warum haben Sie in Deutschland einen Tayad- Solidaritätsverein gegründet?
Tayad hat in der Türkei eine lange Tradition, die bis Anfang der 80er Jahre zurückreicht. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 herrschte in der Türkei totales Schweigen. Über 260 000 Menschen waren inhaftiert. Täglich wurden Menschen auf der Straße ermordet. Folter und Demütigungen in den Gefängnissen waren alltäglich. Die politischen Gefangenen waren diesen Angriffen am stärksten ausgesetzt. Ihre Angehörigen und Freunde haben sich in Tayad zusammengeschlossen, um gegen die unmenschlichen Haftbedingungen zu protestieren. Seitdem haben sich die Tayad-Mitglieder kontinuierlich für die Rechte der Gefangenen eingesetzt. Da es auch in Europa politische Gefangene gibt, haben wir uns Tayad zum Vorbild genommen, um eine Angehörigenorganisation aufzubauen. Wir wollen mit diesem Schritt der von Repression bedrohten Organisation ideelle und materielle Unterstützung zukommen lassen.
F: Welche Rolle spielt Tayad beim aktuellen Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei?
Tayad-Angehörige beteiligen sich gemeinsam mit entlassenen Gefangenen am Hungerstreik und Todesfasten in dem Istanbuler Armenviertel Armutlu. Zur Zeit befinden sich zehn Tayad-Mitglieder im Hungerstreik, fünf sind in den letzten Monaten im Todesfasten gestorben.
F: In letzter Zeit hat die türkische Regierung den Druck auf Tayad erhöht. Wie ist die momentane Situation?
Der türkische Staat kann nicht dulden, daß das Todesfasten trotz aller Angriffe und trotz Zwangsernährung fortgeführt wird und reagiert mit weiterer Repression. Der Stadtteil Armutlu wird seit Wochen von Antiterroreinheiten und der Polizei abgeriegelt. Personenkontrollen werden durchgeführt und Besucher der Hungerstreikenden inhaftiert. Der Tayad-Vorsitzende Tekkim Tangun wurde kürzlich verhaftet, als er gerade in der linken Wochenzeitung Vatan ein Interview geben wollte. 15 Mitarbeiter der Zeitung wurden dabei ebenfalls festgenommen. In Izmir wurde von mit Messern und Schlagstöcken bewaffneten Polizisten eine Wohnung gestürmt, in der sich Hungerstreikende aufhielten. Das Tayad-Mitglied Ali Kocak wurde anschließend von der Polizei entführt. Gleichzeitig beginnt demnächst die Gerichtsverhandlung gegen Gefangene des Gefängnisses Bayrambasa. Sie hatten sich im Dezember gegen die Angriffe des Militärs gewehrt.
F: Muß mit einer weiteren Verschärfung der Repression in der Türkei gerechnet werden?
Der Staat trifft Vorbereitungen für den Sturm auf Häuser, in denen Tayad-Angehörige ihren Hungerstreik durchführen. Bei dieser Aktion muß mit Toten gerechnet werden. Die Hungerstreikenden draußen und im Gefängnis haben bereits erklärt, daß sie sich gegen einen solchen Angriff zur Wehr setzen werden.
F: Sind im Ausland Solidaritätsaktionen geplant?
Der 15. August ist der 300. Tag des Hungerstreiks und des Todesfastens in der Türkei. Wir rufen die Menschen in ganz Europa daher zu einem dreitägigen Hungerstreik auf. Zur Zeit finden in verschiedenen europäischen Ländern befristete Solidaritätshungerstreiks statt. Aktionen laufen in der Schweiz, Österreich, Holland, Frankreich, Belgien und Deutschland. In Frankfurt/Main begann am Wochenende ein 15tägiger Hungerstreik, der im Anschluß in Köln und Strasbourg fortgesetzt wird. In Zürich befindet sich Cemile Ayyildiz seit dem 10. Juli in einem unbefristeten Hungerstreik. Die Mutter von drei Kindern protestiert damit gegen das weitgehende Schweigen in Europa zu den Zuständen in der Türkei.
F: Welche Perspektive hat der Kampf der Gefangenen nach einer so langen Zeit überhaupt noch?
Die Gefangenen haben immer wieder erklärt, daß sie ihre Aktion bis zur Schließung der Isolationsgefängnisse und Militärgerichte fortsetzten werden. Der Staat hat diese Forderungen ignoriert und statt dessen versucht, mit allen Mitteln den Widerstand zu zerschlagen. Die Gefangenen haben für ihren Widerstand schon einen sehr hohen Preis bezahlt, und werden ihre Aktion daher bis zur Erfüllung ihrer Forderungen fortsetzen.
Interview: Peter Nowak |