junge Welt09.01.2001Wie beurteilen Sie das Urteil gegen Nuri Eryüksel? jW sprach mit Cengiz Delgus von den »Prozeßgruppen zu den DHKP/C-Verfahren« _________________________________________________________________
(Der türkische Publizist Nuri Eryüksel wurde am Freitag wegen Rädelsführerschaft vom Hamburger Strafsenat zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt)
F: Am vergangenen Freitag wurde vor dem Hamburger Staatsschutzsenat das Urteil gegen den türkischen Publizisten Nuri Eryüksel verkündet. Wie beurteilen Sie es?
Es handelt sich eindeutig um ein politisches Urteil. Die Staatsanwaltschaft hat eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten wegen Anstiftung zum Mord und Rädelsführerschaft in der anatolischen Volksbefreiungsfront/Partei (DHKP/C) gefordert. Doch die von zwei Kronzeugen erhobenen Vorwürfe, daß Eryüksel an der Anstiftung zum Mord beteiligt gewesen sei, mußten fallengelassen werden. Trotzdem wurde er wegen Rädelsführerschaft zu sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hinzu kommt noch eine sechsmonatige Bewährungsstrafe von einem früheren Verfahren. Es ist unwahrscheinlich, daß er vorzeitig entlassen wird. Anderen wegen DHKP/C-Delikten Verurteilten wurde in der Vergangenheit die sonst übliche Praxis des Strafnachlasses nach der Verbüßung von zwei Drittel der Haftstrafe verweigert. Weil auch die Zeit, die Nuri Eryüksel in der Schweiz in Auslieferungshaft saß, nicht gesondert angerechnet wird, ist es sehr wahrscheinlich, daß er die Strafe vollständig absitzen muß.
F: Gab es Proteste nach dem Urteil?
Es gab eine Demonstration mit etwa 100 Personen vor dem Gerichtsgebäude in Hamburg. Während der Plädoyers der Verteidiger war das Gerichtsgebäude voller BGS-Beamter.
F: Welche Möglichkeiten der Verteidigung bestehen denn jetzt noch?
Die Anwälte gingen in ihren Plädoyers sehr detailliert auf die Vorwürfe der Anklagebehörden ein. Insbesondere der Erklärung der Staatsanwaltschaft, Eryüksel sei selber für seine schwere Sehbehinderung verantwortlich, wurde entschieden widersprochen. Von der Verteidigung wurde nachgewiesen, daß die Behinderung eine Folge der Folter in türkischen Gefängnissen ist. Der Angeklagte selber erklärte wiederholt, daß das Kampfgebiet der DHKP/C nicht in Deutschland, sondern in der Türkei liege.
F: Trotz des Urteils war die Staatsanwaltschaft nicht zufrieden. Warum?
Die Verteidigung geht sogar davon aus, daß die Staatsanwaltschaft Revision gegen das Urteil einlegen wird. Denn in der Urteilsbegründung wird festgestellt, daß es seit Februar 1999 keine terroristischen Bestrebungen innerhalb der DHKP/C mehr gibt. Bei den bisherigen Urteilen gegen tatsächliche oder vermeintliche DHKP/C-Mitglieder gab es nie einen solchen Passus.
F: Wird auch die Verteidigung Berufung gegen das Urteil einlegen?
Wegen der genannten Urteilsbegründung ist das unwahrscheinlich.
F: Wie ist die momentane Haftsituation von Eryüksel?
Nach wie vor ist er dreifach isoliert. Er ist 23 Stunden allein in der Zelle. Weil er kaum Deutsch versteht, kann er kein Radio hören. Weil er fast blind ist, kann er nicht lesen. Ein Vorleser wurde ihm nicht bewilligt. Seit mehreren Wochen hat Eryüksel eine Augenentzündung, die nicht behandelt werden konnte, weil sich der Termin des Augenarztes immer mit den Prozeßterminen überschnitten hat. Das Gericht war nicht bereit, ihm einen anderen Arzttermin zu genehmigen. Richter Mentz hat bei der Urteilsverkündung schon erklärt, daß sich an der Haftsituation nichts Wesentliches ändern wird.
Interview: Peter Nowak |