junge Welt25.04.2001Welche Perspektive hat der Hungerstreik in der Türkei? jW sprach mit Fatmah Hatice und Selda Demiz von der Berliner Initiative für die Gefangenen aus der Türkei _________________________________________________________________
F: Am Wochenende hat die türkische Regierung überraschend Zugeständnisse an die hungerstreikenden Gefangenen gemacht. Zeichnet sich doch noch eine Lösung ab?
Fatmah Hatice: Der Vorschlag der Regierung lautet, daß die Gefangenen gemeinsam an Kultur- und Sportveranstaltungen im Gefängnis teilnehmen können. Seit 1985 gibt es in der Türkei eine Regelung, nach der wegen sogenannter terroristischer Aktivitäten angeklagte oder verurteilte Gefangene daran nicht teilnehmen können. Gerade unter der jetzigen Regierung wird diese Regelung besonders strikt angewandt. Der Justizminister hat dem Parlament vorgeschlagen, diese Regelung aufzuheben. Verändert hat sich für die Gefangenen dadurch gar nichts. Es ist in erster Linie eine taktische Maßnahme der Regierung. Schon beim »Todesfasten« 1996 hat die türkische Regierung einige Zugeständnisse gemacht, die sie kurz nach dem Ende der Aktion wieder zurückgenommen hat. Daher haben verbale Bekundungen der türkischen Regierung für die Gefangenen keine Bedeutung. Es geht darum, was in der Praxis geschieht.
F: Wie viele Gefangene befinden sich momentan noch im sogenannten Todesfasten?
Selda Demiz: Die genauen Zahlen sind uns nicht bekannt, weil viele Gefangene in das Krankenhaus gebracht und zwangsernährt werden, ohne daß es bekannt wird. Wenn die Gefangenen wieder zu Bewußtsein kommen, lehnen sie die Zwangsernährung allerdings vehement ab. Zur Zeit befinden sich rund 2 000 Gefangene im Hungerstreik und etwa 400 im Todesfasten. Etwa 95 befinden sich an der Schwelle des Todes und ca. 30 werden dauerhafte körperliche Schäden behalten.
F: Die konservative türkische Tageszeitung Hürryiet schrieb letzten Freitag, daß ein Teil der Gefangenen das Todesfasten beenden will. Bröckelt der Widerstand?
S.D.: Das ist reine Regierungspropaganda. Die Gefangenen setzten ihren Kampf wie bisher fort und werden ihn erst beenden, wenn die Isolationszellen abgeschafft sind. Das haben sie immer wieder erklärt und daran hat sich nichts geändert.
F: Seit seinem Beginn am 20. Oktober letzten Jahres forderte der Widerstand der Gefangenen fast 50 Todesopfer. Macht unter diesen Umständen die Fortsetzung des Todesfastens überhaupt noch Sinn?
F.H.: Den Gefangenen war schon vor Beginn ihres Hungerstreiks klar, daß dieses Mal der Kampf härter als bei allen bisherigen Aktionen sein wird. Denn es ging der Regierung nicht nur um die Einschüchterung der Gefangenen. Die gesamte Bevölkerung sollte zum Schweigen gebracht werden. Das erklärt die Härte des Kampfes.
F: In den letzten Wochen waren wegen der Wirtschaftskrise in der Türkei Zehntausende auf der Straße. Spielte bei diesen Demonstrationen die Situation der Gefangenen eine Rolle?
S.D.: Der Regierung war schon lange klar, daß das Land in eine schwere Wirtschaftskrise steuert. Deshalb erfolgte der Angriff auf die politischen Gefangenen. Denn wären sie jetzt draußen, würden sie sich führend an diesen Kämpfen beteiligen. Deswegen unternimmt der Staat auch alles, damit die Wut der Bevölkerung wegen der Wirtschaftskrise nicht mit dem Gefangenenwiderstand zusammenkommt. Das wäre eine sehr große Gefahr für die Regierung.
F: Vor einigen Tagen haben sich namhafte türkische Intellektuelle mit einem Vermittlungsangebot zu Wort gemeldet. Welche Chance hat diese Initiative?
Das ist ein sehr positiver Schritt. Doch wir denken, die Initiative kommt zu spät. Zu viele Gefangene sind schon tot. Und nun meldet sich das Gewissen der Intellektuellen.
Interview: Peter Nowak |