Telepolis05.12.2001 Beweise vom Schneidetisch der Polizei?
Peter Nowak
Die schwedische Polizei hat Beweismaterial gegen Globalisierungsgegner selbst produziert
Nach den massiven Protesten gegen den EU-Gipfel im schwedischen Göteborg sind im vergangenen Juni zahlreiche Demonstranten festgenommen und teilweise zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Schon damals hatten Prozessbeobachter und Juristen Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der Verfahren geäußert (siehe [1]Urteil nach Volkes Stimme in Göteborg). Nun konnten schwedische Journalisten [2]nachweisen, dass die Polizei auch Belastungsmaterial gegen die Globalisierungsgegner eigenhändig produziert hat.
Es handelt sich um Filmaufnahmen, die den schwedischen Demonstranten Hannes Westberg beim Werfen eines Steines zeigen. Der 19-Jährige war daraufhin zu 8 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden. Der Richter erklärte bei der Urteilsverkündigung, das Strafmaß wäre erheblich höher ausgefallen, wenn Westberg nicht auf der Demonstration durch Polizeischüsse lebensgefährlich verletzt worden wäre. Er lag danach mehrere Tage im Koma und eine Niere musste entfernt werden.
Das Verfahren gegen den Schützen in Uniform war mit der Begründung eingestellt worden, er sei von militanten Demonstranten eingekreist gewesen und habe in Notwehr zur Schusswaffe gegriffen. Zum Beweis wurden Videoaufnahmen herangezogen, auf denen vermummte Demonstranten trotz Warnschüssen die Polizei attackieren. Jetzt haben Fernsehjournalisten nachgewiesen, dass diese Videos gezielt manipuliert wurden. So habe die Polizei eine [3]Szene herausgeschnitten, die dokumentiert, wie ein Polizist einen auf den Boden liegenden Demonstranten auf den Kopf tritt.
Doch damit nicht genug: Die Polizei manipulierte das Video so, dass der Eindruck entstehen musste, der Polizist habe sich in einer lebensgefährlichen Situation befunden, als er schoss. So wurden mehrere Straßenzüge entfernt gefilmte vermummte Demonstranten nachträglich in die Aufnahmen am Ort der Schüsse geschnitten. Auch Bild und Ton scheinen im zentralen Teil des Films nicht überein zu stimmen, schreibt die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter: "Die Parole 'Eins, zwei, drei Nazipolizei' von mehreren Stimmen kann gehört werden, während Hannes W. Steine auf die Polizei wirft. Dieser Teil des Tones existiert aber in der [4]Originalversion des Filmes nicht." Wie Ohrenzeugen berichteten, erschallten diese Parolen erst, nachdem die Schüsse auf die Demonstranten bekannt geworden waren.
Für die Anklagebehörde ist die nachgewiesene Manipulation äußerst unangenehm. "Ich habe die Filmversion, die die Polizei vorgelegt hat, nie in Frage gestellt. Künftig werde ich Videoaufnahmen kritischer begegnen," erklärte Schwedens Oberster Staatsanwalt Bengt Landahl.
Schwedische Globalisierungskritiker fordern jetzt die Neuverhandlung sämtlicher Anklagen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den EU-Gipfel. Schließlich gäbe es keine Garantie dafür, dass die Urteile nicht alle auf Grund manipulierter Beweise zustande gekommen sind.
Unter den Verurteilten sind neben Aktivisten aus Schweden, Großbritannien, Dänemark und Italien auch zwei junge Demonstranten aus Deutschland. So wurde der 20jährige Sebastian S. aus Nordrhein-Westfalen zu 20 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Bei dem 25jährigen Berliner Jesse-Björn B. wurde in zweiter Instanz das Strafmaß von 15 Monaten auf 2 Jahre erhöht. Beiden wurde vorgeworfen, am Rande der Demonstrationen Steine auf Polizisten geworfen zu haben.
Nach dem Willen der schwedischen Anklagebehörden soll es noch mehr Urteile geben. Mitte Oktober wurden in ganz Schweden 17 Personen festgenommen, denen Vorbereitung der Proteste gegen den EU-Gipfel vorgeworfen wurde. Auch gegen Demonstranten aus Dänemark, Deutschland, Finnland und Norwegen wurden weitere Anklagen [5]angekündigt. Die Identifizierung der Personen sei durch Videomaterial erfolgt, erklärten die Anklagebehörden. Ob das ebenfalls am Schneidetisch produziert wurde, fragen sich jetzt natürlich viele Menschenrechtsgruppen. |