Telepolis-Artikel17.12.2001Unterschiedliche Reaktionen auf Ausreisebeschränkungen Peter Nowak Auch wer nicht vorbestraft ist, kann sich in der "Datei Gewalttäter" finden
Tausende demonstrierten in diesen Tagen in Brüssel gegen den EU-Gipfel. Viele kamen aus Deutschland. Doch nicht alle, die es wollten, konnten auch dabei sein. Allein in Berlin wurden von der Polizei 29 Ausreisebeschränkungen mit verschickt ( [1]Feindbild Globalisierungsgegner). 3 Betroffene haben gegen diese Entscheidung geklagt. In einem [2]Fall wurde die Ausreisebeschränkung vom Gericht zurück gewiesen. Eine einmalige Anklage wegen Landfriedensbruch reiche für eine solch gravierende Grundrechtseinschränkung wie ein Ausreiseverbot nicht aus, so die Begründung.
Zwei weitere Berliner, die ebenfalls gegen die Ausreiseverbote klagten, hatten allerdings weniger Glück. Das Berliner Oberverwaltungsgericht hatte in ihrem Fall am Donnerstag die Maßnahme bestätigt. Ob eine weitere Instanz angerufen wird, war noch unklar. Die Entscheidung hatte auf jeden Fall keinen Einfluss mehr auf die aktuellen Proteste in Brüssel, die am Wochenende zu Ende waren. In Göttingen wiederum flatterten 13 bekannten linken Aktivisten sogenannte "Gefährderanschreiben" der politischen Polizei ins Haus. Sie wurden vor Repressalien gewarnt, falls sie sich an Aktionen gegen den EU-Gipfel in Brüssel beteiligen, bekamen aber keine förmlichen Ausreisebeschränkungen.. Alle Adressaten sind nicht vorbestraft und werden trotzdem in einer im November 2000 eingerichteten "Datei Gewalttäter" des niedersächsischen Landeskriminalamt geführt.
Anders als noch im Sommer, als im Vorfeld der Proteste gegen das G8-Treffen in Genua das erste Mal Ausreisebeschränkungen im größeren Stil verhängt worden waren, hat diese Maßnahme jetzt ein geringeres Medieninteresse ausgelöst ( [3]Reisebeschränkung auf Verdacht). Auch die Proteste von Menschenrechtsorganisationen waren dieses Mal leiser als noch vor einigen Monaten. Da mag der Gewöhnungseffekt ebenso eine Rolle spielen wie der veränderte Sicherheitsdiskurs nach den Anschlägen vom 11.September in den USA.
Vielleicht haben die im Vergleich zum Sommer modifizierten [4]Ausreisrebeschränkungen die kritische Öffentlichkeit beruhigt. Denn anders als im Juli mussten sich die von den behördlichen Maßnahmen Betroffenen dieses Mal nicht einmal täglich bei der für sie zuständigen Polizeidienststelle melden. Außerdem wurde nur für die Länder Frankreich, Belgien, Holland und Luxemburg ein zeitlich begrenztes Einreiseverbot verhängt. Im Juni war die Einreise in 11 Staaten- also praktisch sämtliche Nachbarländer von Deutschland- untersagt worden.
Die Maßnahmen werden allerdings ein parlamentarisches Nachspiel haben. Die Europaabgeordnete der Fraktion Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke Ilka Schröder will in einer Anfrage an den Europarat und die Europäische Kommission nach den rechtlichen Grundlagen fragen, die eine Speicherung nicht vorbestrafter Personen in speziellen Gewalttäterdateien rechtfertigen. Auch der niedersächsische PDS-Landtagsabgeordnete Christian Schwarzenholz bereitet eine Anfrage im Landtag vor. Die innenpolitische Sprecherin der PDS-Fraktion Ulla Jelpke bewertete die Ausreisebeschränkungen in einer [5]Erklärung als Verstoß gegen die Menschenrechte.
Zumindest in Niedersachsen haben die Warnungen allerdings ihr Ziel verfehlt. Dort sind mehrere der von der Polizei Angeschriebenen am Wochenende nach Brüssel gefahren, obwohl sie es ursprünglich gar nicht vor gehabt hatten. |