junge Welt19.09.2001Wie weiter in den türkischen Gefängnissen? jW fragte Kivanç Sert, Sprecherin des »Büros für Menschenrechte« (IHD) in Istanbul _________________________________________________________________
* Immer wieder geht die türkische Polizei gegen Angehörige der politischen Gefangenen vor. Am vergangenen Wochenende wurde durch Polizeiangriffe und Straßenschlachten in Istanbul der seit mehr als elf Monaten andauernde Kampf politischer Gefangener und ihrer Angehöriger in der Türkei wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt.
F: Am Wochenende versuchte die Polizei, Häuser in Istanbul zu stürmen, in denen sich Mitglieder der Angehörigenorganisation Tayad im Todesfasten befinden. Ein Anzeichen für die Zunahme der staatlichen Repression?
Die Angriffe kamen nicht sehr überraschend. Seit mehreren Wochen rechnen wir mit einer Räumung der »Todeshäuser« im Istanbuler Stadtteil Kuçuk-Armutlu. »Todeshäuser« werden die Gebäude genannt, in denen Gefangene und Mitglieder der Angehörigenorganisation Tayad das Todesfasten auch außerhalb der Gefängnisse organisieren, um so den Kampf der Gefangenen zu unterstützen. Die Sicherheitskräfte haben mit Wasserwerfern und Schützenpanzern Kontrollpunkte an den Eingängen des Viertels errichtet. Zeitweise blockieren sie jeden Zugang zum Stadtteil.
F: Sind nur die Hungerstreikenden von der Repression betroffen?
Nein. Auch der Menschenrechtsverein ist Ziel vielfältiger Angriffe. Gegen das IHD wurden mehrere Verfahren eingeleitet, nachdem wir staatliche Lügen über die Beendigung des Todesfastens in der Öffentlichkeit richtiggestellt haben. Darüber hinaus sind auch Rechtsanwälte von staatlichen Angriffen betroffen. Das Justizministerium ist vor wenigen Wochen mit der Forderung gescheitert, die Spitze der Anwaltskammer auszuwechseln, nachdem diese zu den Isolationszellen Stellung genommen hatte. Juristen, die Todesfastende vertreten, unterliegen der Willkür. Bei Gerichtsterminen werden ihre Unterlagen widerrechtlich durchsucht und ohne Begründung wichtige Akten beschlagnahmt.
F: Wie ist die aktuelle Lage in den Gefängnissen?
Obwohl rund 200 kranken Gefangenen befristete Haftverschonung gewährt wurde, befinden sich weiterhin Menschen in den Zellen, deren gesundheitlicher Zustand höchst kritisch ist. Ziel dieser Maßnahme war wohl nicht die Gesundheit der Gefangenen, sondern das Unterbinden des Hungerstreiks. Zudem halten die Folterungen weiter an. Dem Todesfastenden Ali Ihsan Kiliç wurde die Wirbelsäule gebrochen, da es ihm nach über 250 Tagen nicht mehr möglich war, die geforderte militärische Stellung bei der Zählung einzunehmen. 80 bis 100 politische Gefangene wurden Mitte August in das neue Isolationsgefängnis der Stadt Bolu verlegt. Dabei wurden auch sie gefoltert und vergewaltigt, vielen wurden Arme und Beine gebrochen. Die Verletzten haben bis jetzt keinerlei medizinische Behandlung erhalten.
F: Die Solidaritätsbewegung mit den Gefangenen ist in den letzten Monaten in der Türkei zurückgegangen. Ist das eine Folge der Repression?
Ja. Der staatliche Druck ist in der letzten Zeit gewachsen. Viele haben sich deshalb zurückgezogen. Ein weiterer Grund für die Schwäche liegt im Verhalten der am Todesfasten beteiligten Organisationen. Ihnen ist es nicht gelungen, hier die Einigkeit zu entwickeln, die sie in den Gefängnissen erreicht hatten. Jeder Ansatz dazu wurde brutal vom Staat zerschlagen. Die Organisationen haben ihre Energie in den Hungerstreik investiert und vermögen es augenblicklich nicht, andere Aktionen aufzunehmen.
F: Sehen Sie Möglichkeiten, doch noch zu einer Lösung des Konfliktes zu kommen?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Die Gefangenen sind in ihrem Todesfasten so entschlossen, daß die Lösung nur auf seiten des Justizministeriums liegen kann. Um weitere Tote zu verhindern, werden wir in der nächsten Zeit mit verschiedenen Aktionen Druck auf das Ministerium aufbauen. Wir wollen die Wiederaufnahme des Dialoges zwischen dem Staat und den Gefangenen erreichen. Außerdem werden wir in den nächsten Wochen ein internationales Symposium veranstalten, das sich mit dem weltweiten Aufbau der Isolationsgefängnisse beschäftigen wird.
Interview: Peter Nowak |