junge Welt 14.07.2001 Warum Mitte Juli den 1. Mai thematisieren? jW sprach mit Harald Wagner, Mitorganisator der Demo »Stoppt die Menschenjagd von Polizei und Justiz« am Sonntag in Berlin _________________________________________________________________
F: Unter dem Motto »Stoppt die Menschenjagd von Polizei und Justiz« wollen unabhängige linke Gruppe am Sonntag in Berlin auf die Straße gehen. Was ist der Anlaß?
Der unmittelbare Anlaß für die Demonstration war die Kriminalisierung der 1.-Mai-Demonstration. Mit den Fahndungsplakaten gegen 92 vermeintliche Straftäter ist europaweit eine neue Qualität erreicht worden. Das ist ein offener Aufruf zur Denunziation gegen Teile der Bevölkerung. Bisher wurden solche Fahndungsplakate bei Vorwürfen wie Mord oder Totschlag angewendet. Jetzt reicht dazu ein angeblicher Steinwurf. Wir wollen mit der Demonstration zeigen, daß wir die von Kriminalisierung bedrohten Menschen nicht allein lassen.
F: Ein Teil der Bevölkerung war zur Denunziation bereit. War das Polizeikonzept erfolgreich?
127 Hinweise sind wenig. Weil die Internet-Fahndung nicht die gewünschten Erfolge erbrachte, wurden schließlich die Plakate gedruckt. Außerdem ist es bei dieser Pressehetze und dem ausgelobten Kopfgeld von 1 000 DM nicht gerade verwunderlich, wenn jemand von Nachbarn oder Arbeitskollegen denunziert wird. Das Perfide ist ja, daß sich die Fahndung an Leute richtet, die nicht viel Geld haben. Da sind 1 000 Mark Kopfgeld schon ein Anreiz.
F: Wie viele Personen sind wegen 1.-Mai-Aktionen in Berlin von Kriminalisierung betroffen?
Unseres Wissens sitzen noch fünf Personen in Untersuchungshaft, die direkt am 1. Mai festgenommen worden sind. Die Leute, die durch die Fahndungsplakate identifiziert worden sind, wurden auf der Polizeiwache erkennungsdienstlich behandelt und sind danach wieder freigelassen worden. Gegen zwei Personen wurde Haftbefehl erlassen, der aber gegen Auflagen ausgesetzt wurde. Alle müssen in der nächsten Zeit mit Prozessen rechnen.
F: Sind die Ereignisse vom 1. Mai nicht Mitte Juli längst vergessen?
Nein. Erst vor wenigen Tagen gab es in einer Charlottenburger Diskothek eine Großrazzia. Dort waren auch zwei Beamte des Berliner Landeskriminalamtes mit Fahndungsfotos vom 1. Mai anwesend.
F: Gruppen wie das Komitee für Grundrechte haben sich ebenfalls gegen das Demonstrationsverbot am 1. Mai gewandt. Wäre für die Bekämpfung der Kriminalisierung nicht eine größere Bündnisbreite sinnvoller?
Es geht uns bei der Demonstration nicht nur um die Kriminalisierung linker Demonstrationen. Wir wollen mit unserer Demonstration gleichzeitig die allgegenwärtige Korruption bis in höchste Staatsetagen aufzeigen und die von sämtlichen Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus akzeptierten Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich bekämpfen. Das geht nur mit einer eindeutig antikapitalistischen Stoßrichtung. Die aber vermissen wir bei den Bürgerrechtsgruppen und auch schon in großen Teilen bei der PDS.
F: Nach dem 1. Mai hat in Berlin ein Regierungswechsel stattgefunden. Inwieweit wird das im Aufruf berücksichtigt?
Wir haben einen grünen Justizsenator - Wolfgang Wieland -, der sich bei seiner Amtseinführung als Bürgerrechtssenator vorgestellt hat. Es gibt aber bisher keine Anzeichen dafür, daß die Kriminalisierung im Zusammenhang mit dem 1. Mai beendet wird. Daß es möglich wäre, zeigte die Einstellung von über 400 Verfahren im Zusammenhang mit der Räumung der Mainzer Straße im November 1990. In der gegenwärtigen Situation hat die rot-grüne Landesregierung kein Interesse an einem solchen Kurs. Wenn man sich das Sparkonzept von Rot- Grün ansieht, sind Proteste und soziale Auseinandersetzungen schon vorprogrammiert.
F: Würden Sie die PDS in diese Kritik mit einbeziehen?
Wir wollen auch den Druck auf die PDS erhöhen. Sie muß sich entscheiden, ob sie bereit ist, die Interessen der sozialen Bewegungen ins Parlament zu tragen oder ob ihr Senatsposten wichtiger sind und sie damit den Bruch mit den sozialen Bewegungen riskiert.
Interview: Peter Nowak |