junge Welt18.11.2000
Johlend am Straßenrand Ein Buch über den gewöhnlichen Antisemitismus in der deutschen Provinz _________________________________________________________________
*** Anja Listmann: Beinahe vergessen. Jüdisches Leben in Bad Salzschlirf. Rhön-Verlag, Hünfeld 2000, 180 Seiten, DM 24,80
»Die Juden von Rhina« hieß ein Buch, das in den 80er Jahren bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Die Schriftstellerin Renate Chotjewitz-Häfner arbeitete darin ein Pogrom gegen jüdische Viehhändler literarisch auf. Damals stieß die Autorin bei ihrer Recherche in der osthessischen Provinz auf eine breite Front der Ablehnung und des Verschweigens.
Nur wenige Kilometer von Rhina entfernt liegt der Kurort Bad Salzschlirf. Die Fuldaer Lehrerin und Historikerin Anja Listmann versuchte in den vergangenen Jahren, die Geschichte der Juden ihrer Heimatstadt Bad Salzschlirf aufzuarbeiten und mußte die Erfahrung machen, daß die Ablehnungsfront noch immer steht. Der engagierten Historikerin wurden von den Behörden und von einem großen Teil der Salzschlirfer Bevölkerung bei ihrer langjährigen Forschungsarbeit ständig Steine in den Weg gelegt. Mit Verweis auf den Datenschutz verweigerten die Behörden Anja Listmann die Einsichtnahme in dringend benötigte Urkunden und Dokumente. Zeitzeugen verweigerten vehement jede Mitarbeit an dem Projekt. Sogar Drohungen machten bald die Runde. »Mädchen, laß die Finger davon, das bringt nur Ärger«, hieß es in der Bevölkerung.
Ein Beamter gab Listmann den Ratschlag, doch lieber über Salzschlirfer Trachten zu schreiben. Ihre Nachforschungen seien vor Ort offenbar als eine Art Nestbeschmutzung empfunden worden, schrieb die »Frankfurter Rundschau«. Die wenigen Salzschlirfer, die zu Gesprächen bereit waren, verabredeten konspirative Treffen nach Einbruch der Dunkelheit. Aber selbst sie teilten meist nicht das Anliegen der Autorin. »Die große Mehrheit der 20 Befragten interessierte sich nicht für das Schicksal der Juden, sondern war nur um die Rechtfertigung des eigenen Handelns bemüht«, lautete Listmanns ernüchternden Resümee.
Dieses Verhalten hat seinen Grund. Bei ihrer Recherche über die zunehmende Entrechtung der jüdischen Menschen des Ortes nach 1933, die sie an exemplarischen Fällen darstellt, kommt die Autorin immer wieder zu dem niederschmetternden Befund, daß sich die große Mehrheit der Bevölkerung aktiv an den antisemitischen Aktionen beteiligt hat. Die Bewohner der konservativen Provinz übten sich sogar in vorauseilendem Gehorsam, als sie 1933 die Hakenkreuzfahne am Rathaus hißten, bevor entsprechende Weisungen eingetroffen waren. Als der jüdische Prominentenfotograf Mischa Weinlaub unter Schlägen von SA-Leuten durch den Ort getrieben wurde, um den Hals ein Schild mit der Aufschrift »Ich habe einen deutschen Jungen geschlagen«, standen viele Einwohner johlend am Straßenrand. 1939 stellten ihm die Behörden die dringend benötigten Dokumente für die Ausreise nicht aus und vereitelten so seine Flucht. 1941 wurde er in Auschwitz ermordet. Als ein anderer jüdischer Mitbürger von SA-Leuten im Gemeindehaus eingesperrt wurde, skandierten Schulkinder »Holt ihn raus, den Juden Strauß«. Selbst vor der siebenjährigen Margott Strauß, der einzigen jüdischen Schülerin im Ort, machte der Antisemitismus nicht halt. »Während der Pausenaufstellung ging die Klassenlehrerin mit ihr ins Schulgebäude, da keine der Klassenkameradinnen bereit war, sich mit Margott aufzustellen, weil sie Jüdin war.«
Die wenigen von Listmann dokumentierten Fälle, in denen die verfolgten Juden Hilfe von ihren »arischen« Nachbarn bekommen hatten, zeigen, daß das möglich war, ohne besondere Repression erleiden zu müssen.
Daß Listmann ihre Arbeit überhaupt beenden konnte, verdankt sie den in aller Welt lebenden Angehörigen der vertriebenen oder ermordeten Salzschlirfer Juden. Über eine Anzeige in der jüdischen Wochenzeitung Aufbau hatte sie den Kontakt mit ihnen hergestellt. Von den Salzschlirfer Behörden gab es dabei keinerlei Unterstützung. Warum auch? Als Angehörige von ermordeten Juden Anspruch auf deren früheren Besitz erhoben, wurden sie brüsk zurückgewiesen.
Listmann hat mit ihrer Arbeit viele der salbungsvollen Sonntagsreden, die Politiker am 9. November zum Jahrestag der Pogromnacht gehalten haben, Lügen gestraft. Wer etwas über den ganz gewöhnlichen Antisemitismus in der deutschen Provinz erfahren will, sollte zu ihrem Buch greifen.
Peter Nowak |