junge Welt22.12.2000 Diktaturgegner bleiben im Knast Anklage gegen Augusto Pinochet niedergeschlagen. Keine Gnade für »Gefangene der Demokratie« _________________________________________________________________
Wahrscheinlich geht Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in seiner Heimat doch straffrei aus. Wegen Formfehler wurde am Mittwoch das Verfahren gegen ihn niedergeschlagen. Selbst wenn es zu einer neuen Anklage kommt, dürfte ihm schlimmstenfalls Hausarrest in einer seiner Luxusvillen drohen.
Davon kann Maria Cristina San Juan nur träumen. Die Pinochet-Gegnerin, in den 80er Jahren eine bekannte Sprecherin der chilenischen Obdachlosenbewegung, sitzt seit März 1992 in einem chilenischen Hochsicherheitsgefängnis. Nach tagelanger körperlicher und psychischer Folter erkrankte die 43jährige damals schwer. Trotzdem wurde sie wegen angeblicher Mitgliedschaft in der kommunistischen Frente Patriotico Manuel Rodriguez (FPMR) zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Eine Freilassung für die Schwerkranke ist nicht in Sicht. Ebenfalls lebensbedrohlich erkrankt ist der Gefangene der revolutionären Bewegung MIR, Pedro Rosas. Durch eine weltweite Kampagne konnte erreicht werden, daß der an Hodenkrebs erkrankte Rosas im November operiert wurde. Doch therapeutische Maßnahmen, die eine Ausbreitung der Krebszellen verhindern, sind bisher unterblieben.
Maria Cristina San Juan und Pedro Rosas sind wahrlich keine Einzelfälle. Auch zehn Jahre nach dem Übergang von der Pinochet-Diktatur zu einer vom Militär kontrollierten Demokratie sitzen an die 100 linke politische Gefangene in chilenischen Gefängnissen. Ein Großteil kommt aus Organisationen, die der Militärdiktatur bewaffneten Widerstand entgegengesetzt haben. Neben der FPMR sind das vor allem Aktivisten der guevaristischen MIR und der Mapu Lautaro, eine Organisation, die ursprünglich den Christdemokraten nahestand, sich aber unter dem Einfluß von kubanischer Revolution und Theologie der Befreiung in den 60er Jahren nach links orientierte.
Neben den Pinochet-Gegnern sind den uniformierten Richtern auch Angehörige der linken Jugendbewegungen ein Dorn im Auge. Mit einem Durchschnittsalter von 27 Jahren stellen Aktivisten aus den Armenvierteln der Großstädte die Mehrheit der politischen Gefangenen in Chile. Häufig werden sie wegen desselben Delikts von einem zivilen Gericht und dann noch von der Militärjustiz verurteilt. Oft verdoppelt sich so das Strafmaß.
Das einzige, was sich in den letzten Jahren am chilenischen Gefängnissystem geändert hat, ist die Errichtung von Hochsicherheitsknästen nach Stammheimer Machart. Die unter Pinochet ausgearbeitete und weiterhin gültige Verfassung schreibt sowohl die Antiterrorismusgesetze der Diktatur als auch die Zuständigkeit der Militärgerichte für die Aburteilung politischer Gefangener fest. Welche politische Gesinnung dort vorherrscht, macht der Fall des Militärrichters Alfredo Pfeiffer deutlich, der auch für die Verurteilung von Maria Cristina San Juan verantwortlich ist. Der bekennende Nazi-Sympathisant und Auschwitz-Leugner aus der deutschen Colonia Dignidad trägt den Beinamen »El Juez de la Svástica« - »Hakenkreuzrichter«.
Anders als in der Endphase des Pinochet-Regimes sind die politischen Gefangenen heute in der chilenischen Öffentlichkeit kein Thema. Mehrere Hungerstreiks der Gefangenen endeten ohne politischen Erfolg. Dazu haben die Zivilregierungen mit ihrem Diskurs über »Bürgersicherheit« beigetragen. Nach dem Vorbild der »Zero Tolerance«-Doktrin in den USA und Europa soll jede kleinste Abweichung vom Konsens ordnungsliebender Bürger repressiv bekämpft werden. Die Gefangenen werden nicht mehr als linke Aktivisten, deren Menschenrechte verletzt werden, sondern als unliebsame Störer der wenigen Wohlstandsoasen wahrgenommen. Dazu trägt die Propaganda von Regierung und Medien kräftig mit bei. So hieß es nach einem Gefängnisbrand, bei dem elf Gefangene umkamen, daß sich die Häftlinge gegenseitig umbringen würden. Mit einem Hungerstreik kämpfen die Gefangenen jetzt für die Ablösung des berüchtigten Gefängnisdirektors.
Unter den gegenwärtigen politischen Umständen in Chile werden sie in absehbarer Zeit eine Chance auf Freiheit wohl nur nach dem Vorbild des legendären Flugs der Gerechtigkeit vom 30. Dezember 1996 haben. Damals landete unter den Augen der geschockten Gendarmerie ein FPMR-Kommando mit einem Hubschrauber im Innenhof des bestgesicherten Hochsicherheitsgefängnisses des Landes und befreite vier inhaftierte Genossen.
Peter Nowak |