junge Welt Interview 06.11.2000
Reformprojekt vor dem Aus? jW sprach mit dem Bielefelder Medienpädagogen Harald Hahn _________________________________________________________________
Das Oberstufenkolleg (OS) in Bielefeld ist durch Gesetze der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) in der Existenz bedroht. - Der Ex-Kollegiat Harald Hahn und Lehrbeauftragter an der Pädagogikfakultät der Bielefelder Universität
F: Das fortschrittliche Oberstufenkolleg (OS) soll in Nordrhein- Westfalen unter der SPD-Grünen-Koalition abgebaut werden. Was ist das Besondere an dieser Institution?
Das OS ist eine Modellschule des Landes Nordrhein- Westfalen, die in den 70er Jahren gegründet wurde. Die in der 68er Bewegung sehr hoch gehandelte demokratische Bildungspolitik sollte dort umgesetzt werden. Das OS verzahnt Abitur und Hochschulstudium. Den Kollegiaten genannten OS- Besuchern werden nach einer vierjährigen Ausbildung neben dem allgemeinbildenden Abitur noch einige Semester des jeweiligen Fachstudiums angerechnet.
Es gab in den 70er Jahren Pläne, jede Universität mit einem eigenen Oberstufenkolleg auszustatten. Doch das konnte nicht durchgesetzt werden. Das OS Bielefeld ist die einzige Reformschule in der Bundesrepublik geblieben.
F: Wie sind diese bildungspolitischen Reformen in der Praxis umgesetzt worden?
Das OS bietet sogenannten bildungsfernen Schichten die Möglichkeit, über den Zweiten Bildungsweg ein Abitur zu erwerben. Es gibt keine Zensuren, und auch die Angst vor dem Nichtversetztwerden entfällt. Ein Kennzeichen des OS ist die hohe Anzahl der Migranten auf der Schule, sehr viele Kinder aus Arbeiterhaushalten. Das sind Gruppen, die in der Bildungspolitik der 90er Jahre keine Lobby mehr haben.
F: Warum ist ein solches Reformprojekt ausgerechnet unter dieser Landesregierung akut bedroht?
Das hat etwas mit der konservativen Wende der SPD in der Bildungspolitik zu tun, die sich in vielen Beispielen zeigt. Daß bei der rot-grünen Landesregierung das alte bildungspolitische Ideal der Sozialdemokraten, die Chancengleichheit, keinen Stellenwert mehr hat, zeigt sich deutlich an ihrer Politik. Auf der einen Seite wird mit der anthroposophisch orientierten Lehranstalt Witten-Herdecke eine private Eliteschule mit Millionenbeträgen gefördert. Auf der anderen Seite sollen Gelder bei einer Schule eingespart werden, die sich explizit gegen Elitebildung ausspricht, in der Menschen aus »bildungsfernen Schichten« das Abitur machen können.
F: Was würde die Umsetzung der Pläne der NRW- Landesregierung für das Oberstufenkolleg bedeuten?
Es würde ein anderes Lehrdeputat geben und weniger wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beschäftigen. Aber viele befürchten, daß mit der Durchsetzung dieser Reform das Ende des Oberstufenkollegs eingeleitet würde.
F: Das OS war in seiner über 25jährigen Geschichte schon häufiger bedroht. Das konnte durch einen starken Widerstand verhindert werden, der hauptsächlich von den Kollegiaten getragen wurde. Wer wehrt sich gegen die aktuellen Angriffe?
Es gab im OS verschiedene Vollversammlungen, um diese Reform zu verhindern. Höhepunkt war eine Spontandemonstration mehrerer hundert Kollegiatinnen und Kollegiaten in die Bielefelder Universität, als dort die NRW- Bildungsministerin und erklärte OS-Gegnerin Gabriele Behler einen Vortrag hielt. Der Allgemeine Studentenausschuß (AStA) der Bielefelder Universität hat sich in einer Resolution mit dem OS solidarisch erklärt. Mittlerweile melden sich viele Ex-Kollegiaten und -Kollegiatinnen, die sich für ihre ehemalige Schule einsetzen wollen. Bildungspolitisch werden die Pläne der Landesregierung also nicht so einfach über die Bühne gehen.
F: Wann wird es eine definitive Entscheidung über das OS geben?
Hinter den Kulissen wird heftig gerungen. In den nächsten Tagen wird der OS-Gründer Hartmut von Hentig in Düsseldorf zu Verhandlungen erwartet. Aufgrund seines Renommees hat er einen großen politischen Einfluß. Ob es ihm wie in der Vergangenheit noch einmal gelingen wird, das OS zu retten, ist fraglich. Denn nicht nur in der nordrhein- westfälischen Landesregierung auch in der außerparlamentarischen Linken macht sich der Zeitgeist bemerkbar. Themen wie Bildungspolitik oder soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit spielen dort keine Rolle mehr.
Interview: Peter Nowak |