junge Welt Inland09.11.2000
Was tun am heutigen Tag? Linke Gruppen reagieren unterschiedlich auf die Staatsdemonstration für »Toleranz« _________________________________________________________________
Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm hat schon abgesagt. Er werde der Demonstration, die heute unter dem Motto »Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz« in Berlin stattfindet, fernbleiben, erklärte der CDU-Rechtsaußen. Doch Schönböhm steht mit seiner Nichtteilnahme ziemlich allein. Fast alles, was in politischen, kulturellen und sportlichen Kreisen Rang und Namen hat, wird dabeisein. Nur die zahlreichen Initiativen und Organisationen, die seit Jahren aktiv gegen Neonazis und Rassisten arbeiten, fehlen zum großen Teil in diesem Reigen. Was sie am heutigen 9. November tun wollen und wie sie sich zum Staatsakt verhalten sollen, ist unter ihnen umstritten.
In einem zweiseitigen Brief unter der Überschrift »Was denken und tun am 9. November 2000« haben »einige Autonome aus Berlin und der ganzen Welt« zur Diskussion aufgerufen. »Wer wirklich Rassismus, Neonazismus und Antisemitismus bekämpfen will, der darf sich unter keinen Umständen in den quasireligiösen Konsens der Wirtschaftsstandort-Demokraten einbringen, sondern der oder die muß Unruhe stiften.« Doch die Autonomen wissen zu differenzieren. Unter Verweis auf den Abschlußredner Paul Spiegel vom Zentralrat der Juden in Deutschland schreiben sie: »Es wäre falsch, alle Demonstrationsaufrufer der Lüge und der Heuchelei zu bezichtigen«. Auch bei den möglichen Protesten äußern sich die Verfasser des Papiers eher vorsichtig. »Neben den vielen unterschiedlichen und sicher auch sehr kontroversen politischen Perspektiven, die wir mit der Teilnahme an dieser Staatsdemonstration verbinden, sollten wir uns überlegen, wie wir unter den Augen von ein paar tausend Zivilpolizisten eigentlich agieren können.«
Der Schwerpunkt des Protestes wird denn wohl auch auf den Aussagen auf den Transparenten liegen. »Wir wollen die Rolle von Schröder und Fischer als Verantwortliche für den Krieg in Jugoslawien und die fortdauernde Abschiebung von Flüchtlingen thematisieren«, meint ein Aktivist einer Berliner Antifagruppe. Vorbild für die Protestierer ist der 9. November 1992. An diesem Tag trat schon einmal das »anständige Deutschland« in Gestalt des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker für Toleranz und gegen Gewalt ein. Die politische Klasse wollte sich von den pogromartigen Angriffen auf Flüchtlinge distanzieren, während sie gleichzeitig das Asylrecht abschaffte. Ständig unterbrochen von »Heuchler, Heuchler«-Rufen und mit Schirmen vor Eierwürfen geschützt, mußte Weizsäcker seine Rede vorzeitig beenden. Doch es gibt auch Skepsis, ob eine solch breite Gegenmobilisierung in diesem Jahr wieder erreicht werden kann. Schließlich gehörten 1992 noch Teile der Grünen-Basis zu den Protestierern, auf die in diesem Jahr wohl nicht zu rechnen ist.
Die Antirassistische Initiative (ARI) will die Staatsdemonstration ganz ignorieren. Sie ruft mit anderen antifaschistischen Gruppen zur Teilnahme an der Demonstration in Moabit und Tiergarten auf, zu der die Antifaschistische Initiative Moabit (AIM) in Erinnerung an die Deportation der Berliner Juden seit Jahren mobilisiert. In den vergangenen Jahren ist diese Demonstration von der Polizei immer wieder angegriffen worden.
Ein »Bündnis Afrikanischer Organisationen« ruft ebenfalls zu einer eigenen Demonstration unter dem »Motto »Black out? Rassismus tötet wieder« auf. Sie soll aber erst am 9. Dezember anläßlich des Tages der Menschenrechte stattfinden. In einer Erklärung des Bündnisses zur Staatsdemonstration heißt es unter anderem: »Viele der demonstrierenden Politiker sind Teil des Problems«. Die afrikanischen Organisationen erinnern daran, daß die großen Parteien ausländerfeindliche Stimmungen in der Bevölkerung schüren und daß auch der amtierende Bundeskanzler Afrikaner einmal pauschal als Drogendealer bezeichnet habe.
Peter Nowak |