junge Welt30.12.2000Wohin zieht der Anachronistische Zug? jW sprach mit Heinz Klee vom Mahagonny-Büro _________________________________________________________________
»Wir schlagen Euch vor, am Jahrtausend-Silvester die Straßen Berlins mit Bertolt Brecht und seiner Tochter unsicher zu machen«, heißt es in einer Presseerklärung des Büros Mahagonny/Anachronistischer Zug. - Heinz Klee bereitet den Zug in diesem Büro vor
F: Was ist der Anachronistische Zug?
Der Anachronistische Zug geht auf ein Gedicht zurück, daß Bertolt Brecht 1947 geschrieben hat. Damals waren zwei Entwicklungswege für Deutschland absehbar. Ein antifaschistisch-demokratischer Weg oder die Rückkehr der alten Nazis in ihre Ämter. Dieser Weg ist später in Westdeutschland beschritten worden. Brecht schrieb das Gedicht »Freiheit and Democracy« und zeigt, wie die ganzen alten Nazis Freiheit für sich forderten. In 41 Strophen werden die unterschiedlichen Klassen und Schichten der Bevölkerung beschrieben, die vom Faschismus profitierten, z. B. Lehrer, Richter, Journalisten.
F: Seit wann gibt es die Open-Air-Aufführungen dieses Gedichts?
Erstmals wurde das Gedicht 1979 aufgeführt, als das ehemalige NSDAP-Mitglied Carl Carstens zum Bundespräsidenten gewählt wurde. 1980 fuhr der Zug gegen die Kanzlerkanditatur von Franz Josef Strauß während der Bundestagswahl drei Wochen quer durch die Republik. 1990, als die DDR an die BRD angeschlossen wurde, ist der Zug von Bonn 14 Tage durch die DDR gefahren und kam am Wahlabend in Berlin an. Danach gab es einen großen internationalen Kongreß in Berlin mit Vertretern aus 14 Ländern unter dem Titel »Wohin fährt der Anachronistische Zug?« In einer Erklärung hieß es, der Anachronistische Zug soll kreuz und quer durch die BRD fahren, bis er im Ausland von Menschen und Organisationen gerufen wird, die sich vom neuen deutschen Imperialismus bedroht fühlen. 1994 fuhr der Zug vor der Bundestagswahl letztmalig durch Berlin.
F: Warum gab es die lange Pause?
Es hatte niemand Interesse an dem Zug. Außerdem fehlte Geld, um die aufwendigen Darstellungen durchzuführen. Das ist ein Ausdruck der Schwäche der linken und demokratischen Bewegung in Deutschland, die es bisher weitgehend versäumte, über die Angriffe aufzuklären, die der deutsche Imperialismus in anderen Ländern plant. Selbst die kurzlebige Bewegung gegen den Jugoslawien-Krieg sah den Hauptfeind eher in den USA als in der eigenen Regierung. Auch in diesem Jahr fährt der Zug nur deshalb durch Berlin, weil wir zum Millenniumswechsel im Zentrum des deutschen Imperialismus präsent sein wollten.
F: Ist der Anachronistische Zug nicht - über 50 Jahre, nach dem Brecht das Gedicht geschrieben hatte - selbst anachronistisch geworden?
Wenn ich sehe, daß seit 1990 über 200 Menschen auf Deutschlands Straßen von Neonazis ermordet wurden, denke ich, daß die Situation heute schlimmer ist als 1979, da der Zug das erste Mal aufgeführt wurde. Unter Rot-Grün hat sich die Situation verschlimmert. Der Abbau demokratischer Rechte hat sich verschärft. Der Anachronistische Zug beschreibt die Vorbereitung neuer Kriege. Auch da hat Rot-Grün mit dem Jugoslawien-Krieg einen mächtigen Schritt nach vorn gemacht.
F: Aber anders als im Gedicht waren es nicht Neonazis, sondern SPD- und Grünen-Politiker, die den Krieg geführt haben.
Es sind die Schüler der alten Nazis. Ich will als Beispiel nur den Fall des bekannten Juristen Theodor Maunz nennen, der ganze Juristengenerationen in Deutschland ausgebildet hat. Später wurde bekannt, daß er nicht nur führender Nazijurist war, sondern bis zu seinem Tod enge Kontakte zum DVU- Vorsitzenden Gerhard Frey hatte und unter Pseudonym in dessen Nationalzeitung geschrieben hat.
F: Wie wird die Aktion am Sonntag in Berlin aussehen?
Es gibt eine Tagesroute und eine Abendroute. Von zwölf Uhr bis 18 Uhr wird der Zug, bestehend aus über 20 LKW, durch verschiedene Stadtteile von Ostberlin ziehen und u. a. am Thälmannpark haltmachen. Die Abendroute beginnt um 21 Uhr an der Weltzeituhr am Alexanderplatz und führt über den Hackeschen Markt zum Berliner Ensemble an der S-Bahn- Station Friedrichstraße. An der Spitze geht der Mahagonny- Chor, dann soll sich der Demonstrationszug anschließen, und am Ende kommen die LKW des Anachronistischen Zuges. Während der Zug dort Pause macht, werden einige Darsteller mit der Brechttochter Hanne Hiob mit Transparenten und Losungen in die feiernde Menge vorstoßen und die letzte Szene von Brechts Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« aufführen. Er hat sich beim Schreiben der Oper 1923 von der Lage im präfaschistischen München inspirieren lassen.
F: Wer unterstützt die Aktion?
Die Initiative geht vom Büro Mahagonny/Anachronistischer Zug aus. Wir bereiten die Aktion auch vor. Es gibt allerdings Unterstützung von Einzelpersonen aus PDS, DKP und FDJ sowie von interessierten Künstlern und Einzelpersonen. Wer sich noch beteiligen will oder Informationen braucht, kann sich an uns wenden.
Interview: Peter Nowak
*** Büro Mahagonny/Anachronistischer Zug, Telefon und Fax: 030/24009505; |